Sohn eines früh verstorbenen nö. Statthaltereioffizials. Schon am Wr. Schottengymn. (1866–73) empfing S. durch seinen Lehrer Mareta (s. d.) germanist., bes. sprachwiss. Anregungen und stud. 1873–76 dt. und klass. Philol. an der Univ. Wien, wo Heinzel (s. d.), Karl Tomaschek und Hartel (s. d.) seine wichtigsten Lehrer waren. S.prom. bei Heinzel mit der von W. Scherer (s. d.) in Straßburg betreuten Untersuchung über „Die Handschriften und Quellen von Willirams deutscher Paraphrase des Hohen Liedes“ (1877), legte 1878 die Lehramtsprüfung für dt. und klass. Philol. ab und habil. sich 1879 als Priv.Doz. für german. Philol. mit der Edition „Willirams deutsche Paraphrase des Hohen Liedes ...“ (1878). Nach dem plötzl. Tod Tomascheks 1879/80 auch mit der Abhaltung des neugermanist. Unterrichts betraut, unterrichtete S. daneben 1879–90 an verschiedenen Wr. Gymn. – wobei ihm die dt. Grammatik ein bes. Anliegen darstellte – und war 1890–93 ao., danach o. Prof. für Altgermanistik an der Univ. Innsbruck, bis er 1905 als Nachfolger Heinzels an die Univ. Wien berufen wurde. Bereits früh begann S. die Erarbeitung ausstehender Editionen spätmittelalterl. österr. Werke, wie des „Kleinen Lucidarius“, „Ottokars österreichischer Reimchronik“ (2 Bde., 1890–93) und der in Prosa verfaßten „Chronik von den 95 Herrschaften“ (2 Bde., 1906–09), beide für die „Monumenta Germaniae Historica“. Obwohl die spätmittelalterl. Literatur, insbes. die chronikal., im Mittelpunkt seines Schaffens stand, gingen stets auch Impulse von S.s sprachwiss. Interessen und seinem sprachhist. Unterricht aus (etwa auf J. Schatz, s. d., und Viktor Dollmayr), indem er aufbauend auf Wilhelm v. Humboldt und den sog. Junggrammatikern die Sprache als lebendigen, von Gesetzmäßigkeiten erfüllten Organismus betrachtete und in der spätmittelalterl. Schreibvariation den Einfluß der Dialekte sah. Als Univ. Lehrer in Wien trennte S. im Hinblick auf die vorrangige Ausbildung von Gymn.Lehrern Forschung und Lehre und wandte sich im Unterricht den Zentralgebieten der in der Schule zu vermittelnden älteren Dichtungen, bes. des Nibelungenliedes und Walthers von der Vogelweide, zu. In der Forschung ergriff S. die Möglichkeit, in dem 1899 gegründeten Phonogrammarchiv der Akad. der Wiss. in Wien die ersten Tonaufnahmen gesprochener Dialekte zu machen, die er selbst als „Deutsche Mundarten“ transkribierte und veröff. Die von München aus erfolgte Anregung zu einem gem. bayer.-österr. Dialektwörterbuch veranlaßte S., der seit 1901 korr. und seit 1906 w. Mitgl. der Akad. der Wiss. in Wien war (1910 HR, 1916 sollte er auch in die Bayer. Akad. der Wiss. aufgenommen werden), zur Gründung einer entsprechenden österr. Komm. an der Akad. (1911) und zur Einrichtung der sog. Wörterbuchkanzlei. Dort nahmen 1913 seine Schüler Anton Pfalz und Walter Steinhauser in Verbindung mit Lessiak (s. d.) die Arbeit auf, was in der Folge zur Entwicklung der sog. Wr. dialektolog. Schule führte. Ein 1910 ausbrechendes Nervenleiden zwang S., seine Wr. Lehrtätigkeit einzustellen und 1912 i. R. zu treten. Als aber sein Nachfolger Carl v. Kraus 1917 einen Ruf nach München annahm, erklärte sich S. zur Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit bereit, die er bis kurz vor seinem Tod ausübte. S.s bleibende Verdienste sind die bis heute fortbestehenden Editionen und die seinen Schülern vermittelten sprachwiss. Anregungen, die dann bes. in der Wr. dialektolog. Schule fruchtbar wurden.
Werke: Neueste Einheitsbestrebungen auf dem Gebiete der dt. Orthographie, in: Z. für das österr. Gymn. 31, 1880; Stud. zum kleinen Lucidarius (Seifried Helbling), in: Sbb. Wien, phil.-hist. Kl. 102, 1882; Leitfaden zum Unterricht in der dt. Grammatik am Obergymn., 1885, 2. Aufl.: Dt. Laut- und Formenlehre, 1911; Seifried Helbling, hrsg. und erklärt, 1886; Der dt. Sprachunterricht am Obergymn., 1888; Über die niederrhein. Reimchronik der Schlacht bei Göllheim, in: Festgruß aus Innsbruck an die Philologenversmlg. in Wien, 1893; Friedrichs III. Aachener Krönungsreise, in: MIÖG 17, 1897; Stud. zu den Ursprüngen der altdt. Historiographie, in: Abhh. zur german. Philol. Festgabe für R. Heinzel, 1898; Zur Kritik der Königsfelder Chronik, in: Sbb. Wien, phil.-hist. Kl.147/2, 1904; Dt. Poesie in Wien vom Ende des 13. Jh. bis in den Beginn des 16. Jh., in: Geschichte der Stadt Wien 3/1, 1907; Dt. Mundarten I–III und V, in: Sbb. Wien, phil.-hist. Kl. 158/4, 1908, 161/6, 1909, 167/3, 1911 und 187/1, 1918; usw.
Literatur: Almanach Wien 70, 1920, S. 220ff.; Hall–Renner; N. Österr. Biogr. 4, S. 128ff. (mit Bild und W.); Jb. der Bayer. Akad. der Wiss. 1919, 1920, S. 4ff.; H. Fuchs, Die Geschichte der germanist. Lehrkanzel von ihrer Gründung ... 1850 bis ... 1912, phil. Diss. Wien, 1967, bes. S. 147ff., 212ff.; P. Wiesinger, in: Festgabe für O. Höfler zum 75. Geburtstag (= Philologica Germanica 3), hrsg.von H. Birkhan, 1976, S. 663ff. (mit Bild); ders., in: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa, hrsg. von F. Fürbeth u. a., 1999, S. 464f.
Autor: (P. Wiesinger)
Referenz: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 55, 2001), S. 107